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Monatsspruch Mai 2010 – Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. (Hebräer 11,1)

Erschienen in Neues aus den Ortsvereinen von Heinrich Tischner 6 Mai, 2010

Liebe Leserin, lieber Leser,

sind wir Christen leichtgläubige Phantasten? So kommt es mir vor, wenn ich lese, wie manche Wissenschaftler Glauben erklären wollen: Er hat seinen Sitz in bestimmten Hirnregionen, man kann ihn orten, wenn man einen frommen Menschen in einen Apparat steckt und ihn beten oder meditieren lässt. Weitergehende Untersuchungen wollen festgestellt haben, dass in diesen Hirnwindungen auch Wahnvorstellungen und epileptische Anfälle zu Hause sind. Womit erwiesen ist, was man schon immer geahnt hat: "Religion ist eine Art Wahnvorstellung. Man muss ja wohl verrückt sein, wenn man Geister sieht und Stimmen hört. Und sehr ungebildet und naiv, wenn man für bare Münze nimmt, was Geisteskranke erzählen."

Ist das richtig gedacht? Die Messungen haben die Fragen beantwortet, die man gestellt hat: Was geht im Gehirn eines meditierenden Buddhisten oder einer Nonne, vor, die den Rosenkranz betet? Um sich konzentrieren zu können, müssen sie einen großen Teil der Wirklichkeit ausblenden. Dasselbe geschieht wohl auch, wenn ich einen Brief schreibe oder Zeitung lese. Dasselbe macht ein Hund, der eine Spur verfolgt. Er achtet nur auf diesen Geruch und lässt sich nicht ablenken durch Katzen oder Nachrichten, die andere Hunde an den Bäumen hinterlassen haben. Das ist doch nicht Religion, sondern Konzentration. Dann sind alle Wissenschaftler religiös oder Phantasten, denn auch sie müssen sich auf ihre Arbeit konzentrieren.

Glaube ist etwas ganz Anderes. Aber was? Dafür gibt es mehrere Antworten:

  1. Glaube ist Religion aus zweiter Hand. Nicht jeder hat das Talent, religiöse Erfahrungen zu machen. Die meisten Menschen begnügen sich mit dem, was sie von den Erlebnissen und vorbildlichen Taten Anderer hören oder lesen. Dies ist die katholische Auffassung, grob gesprochen: Glauben ist alles für wahr halten, was die Kirche sagt.
  2. Glaube ist Gottvertrauen. Du musst nicht glauben, dass Maria leibhaftig in den Himmel gefahren ist oder Luther mit dem Tintenfass nach dem Teufel geschmissen hat. Du musst deinem Verstand keine Gewalt antun, indem du alles wortwörtlich für wahr hältst, was Kirchenvertreter behauptet haben. Es kommt nur auf eins an: Schenke der frohen Botschaft Glauben, dass Jesus Christus dich erlöst hat. Dies ist die evangelische Auffassung.
    Beide Auffassungen finden sich schon in der Bibel. Das griechische Wort pisteúein, das wir mit 'glauben' übersetzen, bedeutet eigentlich 'vertrauen', wird aber oft gebraucht im Sinn von 'für wahr halten'. Es ist ja auch logisch: Wenn ich Nachrichten höre oder Zeitung lese, muss ich ja auch glauben, was da berichtet wird. Ich kann's nicht nachprüfen und habe keine Lust, ein Grubenunglück in China oder ein Selbstmordattentat in Bagdad selbst mitzuerleben. Ich muss mich auf meine Zeitung und den von mir bevorzugten Sender verlassen können. Glaube und Vertrauen lassen sich nicht trennen.
  3. Glaube ist Vorwegnahme von bloß Angedachtem. Das ist die Meinung des Hebräerbriefs. Der Monatsspruch selbst ist schwer zu verstehen. Er wird aber durch die folgenden Beispielen erläutert: Noah baute die Arche, weil er mit einer Überschwemmung rechnete. Abraham hat es auf sich genommen, in ein fremdes Land zu ziehen, in der Überzeugung, dass seine Nachkommen dieses Land einmal besitzen würden. Mose wählte den schwereren Weg, sich zu den unterdrückten Hebräern zu bekennen, weil er an den Sünden der Ägypter keinen Anteil haben wollte.

Manche Menschen sehen Gespenster oder hören Stimmen. Andere haben zukunftsweisende Visionen. Wie Barak Obama, der den US-Amerikanern einredete "Yes, we can" und das unglaubliche Kunststück fertig brachte, eine Krankenversicherung für alle einzuführen. Was wohl in so einem Gehirn vorgehen mag? Aus welchen Hirnregionen wohl Zuversicht, Inspiration, Sendungsbewusstsein, Überzeugungskraft und eiserner Wille entspringen?

Christlicher Glaube ist nicht eine Form von Wahnsinn, sondern hat etwas mit dieser Fähigkeit zu tun, einen Weg in die Zukunft zu finden.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner